Dank gesellschaftlicher Gleichstellung und dem unermüdlichen Einsatz vieler Frauen sind heute mehr Frauen in Top-Positionen anzutreffen als je zuvor. Als Angehörige der “Boomer-Generation” weiß ich das sehr zu schätzen, denn dieser Fortschritt ist nicht ohne Herausforderungen und Hürden erreicht worden.
Wer im Chefinnen-Sessel sitzt hängt die Messlatte oft hoch
Frau Becker* erzählte mir kürzlich von ihren Erfahrungen, die mir verdeutlichten, wie weibliche Führungskräfte sich oft mit ihren eigenen Waffen schlagen.
Frau Becker ist eine sehr erfahrene, kompetente und loyale Chefsekretärin, die in der Vergangenheit hervorragend mit ihren Vorgesetzten zusammengearbeitet hat. Doch seit einem Jahr hat sich ihre Situation geändert – sie arbeitet nun zum ersten Mal für eine weibliche Führungskraft. Sie hatte sich gefreut, endlich auch mal mit einer Frau zusammen zu arbeiten. Schließlich soll der weibliche Führungsstil emphatischer, sozial kompetenter und ganzheitlicher sein. Vom ersten Tag an war Frau Becker tief beeindruckt von der Klarheit, dem Durchblick und Wissen ihrer neuen Chefin aber ihre Freude und Motivation an der Arbeit nahmen täglich ab. Der Grund dafür liegt darin, dass ihre neue Vorgesetzte sämtliche Arbeiten als selbstverständlich ansaht. Wenn alles reibungslos lief, gab es weder Feedback noch Anerkennung. Doch wehe, wenn einmal eine Kleinigkeit daneben geht! Irgendwann fokussierte Frau Becker sich darauf, bloß keine Fehler zu machen. Und was passierte? Ihr Blick auf die eigenen Defizite nehmen ihr peu a peu das Selbstvertrauen. Während sie ein paar Tage krank geschrieben war, kam sie zum Entschluss, ihre Chefin um ein Gespräch zu bitten. Wieder im Dienst fasste sie sich ein Herz und es kam zu einem Gesprächstermin. Frau Becker bat ihre Chefin um Feedback (und wünschte sich insgeheim ein Lob). Aus dem Termin wurde ein Arbeitsgespräch im Sinne von Aufgaben, die noch zu erledigen seien, um die ambitionierten Ziele der Abteilung zu erreichen. “Sie hat mich wieder überrollt”, erzählte Frau Becker, die sich jetzt noch dümmer fühlte als zuvor.
Diese Situation verdeutlicht ein Problem, das viele weibliche Führungskräfte betrifft. Oftmals erkennen sie von Hause aus ihre eigenen Leistungen und Exzellenz nicht an, was ihre männlichen Kollegen anders erleben, die von Kindheit an für ihre Erfolge gelobt wurden.
Jahrhundertelang wurden Mädchen in Rollen gedrängt, die ihnen die Position der Dienenden und Mutter zuschrieben. Ihre Erziehung zielte darauf ab, hübsch, nett, fürsorglich, fleißig und gehorsam zu sein. Intelligenz und Mitsprache wurde ihnen oft schon im frühen Schulalter abgesprochen, während Jungs auf Männlichkeit (Hosen anhaben) geprägt wurden.
Mädchen mit Führungspotenzial wurden oft umerzogen um den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen und “verheiratbar” zu sein. Das bedeutet, dass erfolgreiche Managerinnen, die heute über 40 sind, von Jugend an zielstrebiger, ehrgeiziger, disziplinierter und fleißiger sein mussten als ihre männlichen Kollegen, um die gewünschten Positionen zu erreichen. Wenn Frauen schließlich oben ankommen sind, setzen sie oft die Messlatte entsprechend hoch. Aufgrund extrem hoher Standards nehmen sie Leistungen ihrer Mitarbeiter:innen als selbstverständlich hin.
Im Gegensatz dazu erkennen viele männliche Chefs diese Leistungen und Engagement ihrer Mitarbeiterinnen an, da sie außerhalb ihres eigenen Selbstverständnisses liegen.
Anerkennung und Wertschätzung gelten als das A und O guter Zusammenarbeit und Mitarbeiterbindung.
Frau Becker ist zweifellos genauso fleißig wie ihre Chefin. Sie sorgt dafür, dass der Arbeitsablauf reibungslos funktioniert, ist Troubleshooterin und Organisatorin und kümmert sich fürsorglich um das gesamte Team. Wenn jedoch ihr Einsatz nicht wahrgenommen wird, sieht sie keinen Grund mehr, in dieser Position zu bleiben. Schade für alle Beteiligte.
Es ist wichtig, dass weibliche Führungskräfte sich bewusst machen, wo ihre Messlatte hängt. Wer die eigenen Leistungen anerkennt, kann auch die Mitarbeiter:innen würdigen. Das schafft eine positive Arbeitsatmosphäre, in der sich alle wertgeschätzt fühlen und motiviert sind, ihr Bestes zu geben.
Gerade in einer Zeit, wo leistungsfähige Mitarbeiter:innen schwer zu finden und zu halten sind, sollten Unternehmen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Anerkennung und Wertschätzung in der Unternehmenskultur fest verankert sind. Psychologische Sicherheit durch regelmäßiges Feedback und die Förderung einer offenen Kommunikation sind nur einige der Möglichkeiten, um ein Umfeld zu schaffen in dem Führungskräfte und ihre Mitarbeiter:innen gleichermaßen erfolgreich sein können.
Es ist an der Zeit, dass die Anstrengungen und Leistungen von Frauen in Führungspositionen gesehen und gewürdigt werden. Zuallererst indem sie selbst ihre Erfahrungen reflektieren und diese mit Anerkennung und Wertschätzung betrachten. Im nächsten Schritt könnten sie es wagen, ihre eigenen Waffen abzulegen anstatt sich selbst damit zu schlagen.
(Hanna Sostak)
*der Name ist erfunden, die Geschichte ist echt.